Reise

Das ist die Berliner Luft, Luft, Luft, ...

Nun ja - was an der Berliner Luft so besonderes sein soll, vermag ich eigentlich gar nicht zu sagen. Mag sein, dass sich die Qualität dieses Mediums durch das Aussterben der Spezies Trabant, Wartburg und Co. und einiger VEBs "Pech und Schwefel" zwangsläufig verbessert hat. Auf was ich jedenfalls hinaus möchte: Unser letztjähriger Stammtischausflug führte uns in die ehemalige Ostzonen-Metropole und heutige Bundeshauptstadt Berlin.

Pünktlich, wie von der Reiseleitung schriftlich erbeten, finden sich acht reiselustige Stammtischler sowie ein dem Stammtisch nahestehender Außenstehender am Münsterer Bahnhof ein, um gut gelaunt den Tag mit dem hastigen Genuss einer Dose Bier zu beginnen. Nun ist es schon ein eigentümliches Gefühl, wenn morgens um 6.30 Uhr die kalte Gerstenflüssigkeit zielstrebig die Speiseröhre hinunterstürzt, sich gleichmäßig im noch leeren Magen breit macht und der in geringen Mengen enthaltene  Alkohol  sofort   ins  Blut übergeht und im Gehirn glückseligkeitverheißende Stoffe freisetzt oder zumindest die Areale, in denen Frust und Ärger abgelegt sind, für ein paar Stunden außer Gefecht setzt. Doch dieser Kick ist einigen Stammtischlern nicht Kick genug. Während des morgens früh acht gestandene Stammtischler versuchen, durch Umklammern mit der Hand den Inhalt der Bierdosen wenigstens einigermaßen auf magenfreundliche Temperaturen zu bringen, verlangt einer nach einem spitzen Gegenstand, um die Dose anstechen und auf "ex" abzischen zu können. Es handelt sich hierbei um Racer - "Stefan" - R., einem stammtischmäßigen Urgestein und jedem in der Stammtischszene als gefürchteter Kampftrinker bekannt. Gesagt, getan! Während Racer noch am Rülpsen ist, werden hinter seinem Rücken die ersten Wetten abgeschlossen, wie lange es am selbigen Tag wohl noch dauern wird, bis er sich das erste Mal übergibt.
Die anschließende Zugfahrt verläuft plangemäß. Wir essen und trinken, während sich der ICE zielstrebig durch die "blühenden Landschaften" (und das im Herbst!) arbeitet. Einziges erwähnenswertes Vorkommnis ist, dass sich eine im Koffer gebunkerte Dose ihres Inhaltes entledigt, was Alex S. dazu veranlasst, den Sicherheitszustand unseres Getränke-Koffers zu checken. Der dadurch zur Schau gestellte Reichtum an Weißblech-Behältern lässt dann doch den einen oder anderen unbeteiligten Zugreisenden irritiert dreinblicken - aber was soll's.

In Berlin angekommen, machen wir uns auf den Weg zu unserem Hotel. Hotel "Ibis - am Alexanderplatz", so lautet unser Ziel. Der Alexanderplatz ist schnell erreicht, fällt er durch den markanten Fernsehturm gleich ins Auge. Aber wo zum Teufel ist das Hotel? Der geneigte Leser, der nun denkt, das kann ja wohl so schwer nicht zu finden sein, und der mit der Ortsbezeichnung "Platz" den Münsterer "Bahnhofsplatz" oder gar den Münsterer "Platz des Friedens" assoziiert - nun dieser Leser liegt wohl von der Tendenz her richtig, von der Dimension aber völlig falsch! Lange Rede, kurzer Sinn: Wir irren, fehlgeleitet von unseren selbsternannten "Führern", planlos durch die Gegend und laufen uns die Füße wund, bis wir letztendlich den alten "Gelbe Seiten"-Spruch beherzigen und jemanden fragen, der sich auskennt. Im Hotel endlich angekommen (und ich bin immer noch der festen Überzeugung, dass die Lagebezeichnung "am Alexanderplatz" vor keinem deutschen Gericht Bestand hätte) schleusen wir erst Mal einen unserer Stammtischler illegal in ein Zimmer ein. Es muss dazu gesagt werden, dass einige Stammtischler Schwierigkeiten haben, den gregorianischen Kalender anzuwenden - was ja noch nicht ganz so tragisch wäre - aber eben diese kalendarischen Analphabeten maßen sich gelegentlich auch noch an, aktiv die Terminplanung anderer Stammtischler zu beeinflussen, was zum Resultat führte, dass wir im Vorfeld des Ausfluges mal zwei Leute zu wenig und letztendlich einer zuviel waren.

Um unser Gepäck erleichtert geht es dann gleich zu Fuß weiter zum Reichstag. Die geplante Besichtigung dieses geschichtsträchtigen Baus wird aber angesichts der bereits schlangestehenden Menschenmassen kurzfristig verschoben. Am "Potsdamer Platz" erklimmen wir die eigens dafür errichtete Infobox, um uns einen Überblick darüber zu verschaffen, wo unser Solidarbeitrag "versandet". Beim Vorschlag, noch ein paar weitere Sehenswürdigkeiten anzusteuern, drohen die Lahmen und Fußkranken aus unserer Mitte offen mit Meuterei. Den drohenden, offenen Konflikt vor Augen spaltet sich unsere Reisegesellschaft erstmalig auf, um sich ein paar Stunden später wie durch ein Wunder wieder an einem Paulaner-Stand auf einem der unzähligen Berliner Straßenfeste zu treffen - die Welt ist doch ein Dorf! (Zumindest für Gleichgesinnte mit einem ausgeprägten Hang zum Weißbier).

Als glücklicherweise auch noch die Live-Band ihre Tätigkeit einstellt und die Musik fortan vom Band kommt, steigt der Stimmungspegel unserer Reisegesellschaft abrupt an. Auch Racer nützt die sich ihm bietende Gelegenheit, seinen Rausch, dem das Dosenstechen am frühen Morgen zur Grundlage diente, schnell noch mal aufzufrischen. Damit nicht nur der Westteil der Stadt von unserer prall gefüllten Stammtischkasse profitieren würde, beschließen wir, das Abendessen im Ostteil der Stadt einzunehmen. Auf dem Weg zu einem geeigneten Lokal fällt ein Stammtischbruder immer wieder durch unkoordinierte Bewegungen und ein zunehmend fahler werdendes Antlitz auf. Der Eine oder Andere denkt jetzt vielleicht bei diesen Zeilen an Jochen R., doch weit gefehlt! Jochen war gar nicht mitgefahren. Nein! Es handelt sich vielmehr um Racer, der nun langsam aber sicher den Rachegelüsten der morgens von ihm geschändeten Bierdose zum Opfer fallen sollte. Kaum haben wir im Lokal Platz genommen, werden wir auch schon von der jugendlichen Bedienung - mit von Nadelstichen zernarbten Unterarmen - freundlich darauf hingewiesen, dass die Getränkeauswahl etwas eingeschränkt sei, da der Laden Konkurs angemeldet hätte und nicht mehr beliefert würde. Die Möglichkeit vor Augen, den drohenden Konkurs vielleicht noch abzuwenden, entschließen wir uns, unseren Beitrag zum Erhalt der Kneipenvielfalt zu leisten und setzen eine Großbestellung aus dem etwas eingeschränkten Angebot ab. Nur einer muss aus der Reihe tanzen. Es ist unser - na ratet mal! - ja genau! - Racer. Während der Rest beim Bier bleibt, mutet er seinem siechen Körper eine 180-Grad-Kehrtwende zu und ordert ein Wasser. Als die Bedienung dann das Essen reicht, bemerkt Racer beiläufig, dass er mal kurz die Toilette aufsuchen werde, es sich aber um einen reinen Routinegang handeln würde und kein Grund zur Beunruhigung bestünde. Er torkelt zunächst alleine los. Der in Sachen Brechreiz routinierte Stammtischler Claus kombiniert blitzschnell die zum Falle vorliegenden Indizien und nimmt die Verfolgung auf. In der Toilette angekommen wird er Zeuge, wie Racer mal eben den Weg zu seinem "großen weißen Freund" unterbricht, um am Waschbecken innezuhalten (sprich: sich ausgiebig auszukotzen). Wieder in unserer Mitte äußert er den Wunsch, ihm die Zimmerschlüssel auszuhändigen - ein Ansinnen, dem Rainer, der das Zimmer mit ihm teilen muss, nicht sehr aufgeschlossen gegenübersteht. Fürchtet er doch, eventuell die Nacht auf dem Flur verbringen zu müssen, weil ein selig schlafender Racer die Tür von innen zugeschlossen haben könnte und nicht auf sein verzweifeltes Klopfen reagiert. Schließlich hat er doch ein Einsehen, dass Racer in seiner derzeitigen Verfassung im weiteren Verlauf des Abends eh nur ein Klotz am Bein sein würde und händigt bereitwillig den Zimmerschlüssel aus.
Rainers grenzenloses Vertrauen in seinen betrunkenen Zimmergenossen soll nicht enttäuscht werden. Ein paar Stunden später an seiner Zimmertür angekommen, findet er den Schlüssel an der Außenseite der Tür steckend vor, während Racer friedlich vor sich dahinschnarcht. Wie gut, dass sich in Berliner Hotels nur ehrenwerte Menschen aufhalten, die nicht auf Schabernack aus sind. Bezüglich unseres Stammtisches wären mir spontan gleich mehrere Leute eingefallen, die diesen außen steckenden Schlüssel für einen Streich genutzt hätten.


Na also, muss man denn alles gleich so wörtlich nehmen?

Am nächsten Tag beim Frühstück sind alle wieder wohlauf. Gleich danach geht's dann mit der S-Bahn nach Potsdam, wo die Lustgärten von "Sansoucci" auf uns warten. Wer dieser Residenz für den ollen Preußenkönig diesen Namen gegeben hat, weiß ich nicht. Ich weiß nur, dass ich froh bin, dass ich dieses komische Wort von einer Vorlage abschreiben kann und nicht auch noch aussprechen muss (Alex, ich danke Dir!). In eben diesem unaussprechlichen Park posiert dann ein FBFler, angefeuert durch die restliche Meute, anzüglich mit einer nackten (weiblichen) Statue, so dass sich alle anderen anwesenden Parkbesucher ein exaktes Bild vom Kunstverständnis eines hessischen Stammtisches machen können. Den Namen des Betroffenen wollen wir hier nicht nennen, jedenfalls sind wir froh, dass unser Racer wieder zu seiner alten Form gefunden hat. Beim sich anschließenden Stadtbummel durch die Potsdamer Innenstadt drängt sich angesichts der Menschenmassen auf den Straßen der Verdacht auf, dass entweder der gemeine Potsdamer auch bei strahlendem Sonnenschein das Haus nicht verlässt oder ganz Potsdam im Zuge der Wende in den Westen geflohen sein muss. Jedenfalls sind die Gassen dort gähnend leer.

Auf der Rückfahrt machen wir noch einen Zwischenstopp am Wannsee. Und während die einen diskutieren, ob das Mädel mit dem kurzen Rock, das uns die ganze Zeit in der S-Bahn gegenüber saß, denn nun einen Slip anhatte oder nicht, diskutieren die anderen ob sogenannte "Fassbrause" Alkohol enthält oder nicht, bzw. wieder andere äußern sich unzufrieden über die Wahl unseres Standorts und ziehen es vor, den Biergarten-Aufenthalt im Einsiedlerdasein zu verbringen. In eben diesem Biergarten erhalten wir auch Tipps von Einheimischen über die Berliner Kneipenszene und wo denn die schrägsten Vögel anzutreffen sind. Wir machen uns später auf die Socken und landen in einem völlig renovierungsbedürftigen Viertel. Von wegen "schräge Vögel"! Das einzige, was dort schräg ist, sind die Bürgersteige und die einzigen Vögel sind ein paar Bordsteinschwalben, die am Straßenrand herumstehen. Alleiniges erwähnenswertes Ereignis an diesem Abend ist ein Blick in ein von Polizisten bewachtes Lokal, wo Joschka Fischer (wer es nicht weiß: Der derzeitige Außenminister!) die an diesem Abend erlittene Wahlschlappe in sich hineinfrisst. Bei der Rückkehr in unser Hotel nehmen wir noch einen Absacker an der Bar ein und stellen fest, dass die Bar die ganze Nacht geöffnet hat - ein Umstand der einigen Stammtischlern später noch zum Verhängnis werden soll.

Am Montagmorgen sind beim Frühstück schon wieder alle vollzählig - das ist auf unseren bisherigen Fahrten nicht immer so gewesen. Voller Tatendrang nehmen wir uns mal wieder die Besichtigung des Reichstages vor. Dort angekommen müssen wir schon wieder feststellen, dass wir nicht die einzigen mit diesem Ansinnen sind. Man fragt sich in solchen Fällen schon mal, ob die Leute, die da in der Schlange stehen, denn keiner geregelten Arbeit nachgehen müssen, oder wie sie es sich sonst leisten können, solange vor dem Reichstag dumm rumzustehen. Schließlich stehen wir die Sache durch (im wahrsten Sinne des Wortes) und beschließen mit dem Reichstag auch den kulturellen Teil unseres Berlin-Trips. Nein! Noch nicht ganz! In einigen Kilometern Entfernung reckt sich die Siegessäule gen Himmel, die es auch noch zu besichtigen gilt. Der beschwerliche Weg dorthin wird von uns leichtfertig unterschätzt. Die Sonne brennt erbarmungslos, um uns herum nur staubige Straßen, weit und breit keine Kneipe, kein Biergarten. Nachdem ich wieder heilfroh und schwindelig die Wendeltreppe von der Aussichtsplattform heruntergelaufen bin, frage ich mich, wieso ich mir so etwas eigentlich  freiwillig  antue, wo ich doch in Sendungen wie "Die Glücksspirale" aus meiner Höhenangst Kapital schlagen könnte, mit dem unwesentlichen Unterschied, dass ich mich dann vor einem Millionenpublikum zum Trottel machen müsste, anstatt vor meinen Kumpeln. Hm ... - Ich glaube, ich sollte da echt mal drüber nachdenken.

Demjenigen, der noch nicht in Berlin war, sei gesagt, dass die Strecke von der Siegessäule zum Ku'damm wohl die höchste Biergartendichte Deutschlands - ach was! - die höchste Biergartendichte der Welt hat! Ein besonders schöner Biergarten ist der am Tiergarten. Aber auch am Ku'damm gibt es so manches schönes Fleckchen Erde. In einem davon werden sogar Spare-Ribs gereicht, die man zum einen Essen kann und aus denen man zum anderen ganz tollen, phantastischen Schmuck basteln kann, wie unser Verkleidungskünstler Michael B. wieder einmal eindrucksvoll unter Beweis stellt. Nach Einbruch der Dunkelheit begeben wir uns wieder auf die Suche nach der "Szene". Als auch diesmal wieder absehbar ist, dass die Suche erfolglos bleiben wird, kehren wir im "Hard-Rock-Cafe" ein. Es ist schon erstaunlich, welches weinerliche Zeug heutzutage so alles als Hard-Rock durchgeht! Angesichts der am nächsten Tag bevorstehenden, beschwerlichen Rückreise zieht es etwa die Hälfte des Stammtisches vor, den direkten Nachhauseweg anzutreten, die andere Hälfte hospitiert noch mal die "Ständige Vertretung". Dort stellen sich auch bald Auflösungserscheinungen ein. Von allen anderen verlassen, beschließen Claus und Rainer, einen letzten Versuch zu starten und das Berliner Night-Life aufzusuchen. Und siehe da! In einem Hinterhofviertel werden sie fündig. Erfreut über den erfolgreichen Abschluss der Expedition bestellen sie an der Theke ein Bier. "Tut mir leid, aber wir machen jetzt zu!", ist die knappe Antwort, die ihnen erwidert wird. Ja so ein Scheiss! "Die Straße runter und um die Ecke, da ist vielleicht noch was los." - "Danke für den Tipp, aber da ist nur der Straßenstrich, das haben wir gestern schon festgestellt!". Genervt treten die beiden den Rückzug an und verweilen auf einen Schlummertrunk an der Hotelbar, wo sie noch mit ein paar Damen und Herren aus der schwäbischen Lederindustrie ins Gespräch kommen. Um 5 Uhr gießt der spendable Barkeeper den beiden den letzten Tropfen Glenfiddich ins Glas, woraufhin sie leicht alkoholisiert die Bar verlassen.

Am nächsten Morgen um 9 Uhr fehlt einer beim Frühstück. Es ist der Claus. Rainer ist zwar anwesend, aber in seinem Gesichtsausdruck ist aller Schmerz und alles Leid der Welt vereint. Mit einigen Minuten Verspätung hält schließlich auch Claus Einzug im Frühstücksraum. Wie besessen stürzt er an den Behälter mit Mineralwasser. Mit Nahrung in fester Form scheint er nichts anfangen zu können oder zu wollen. Gott sei Dank ist er umgeben von verständnisvollen Zeitgenossen, die es nicht übers Herz bringen, über ihren vom Alkohol gezeichneten Mitbruder herzuziehen oder gar abzulästern.

Auf der Rückfahrt im Zug ist irgendwie eine allgemeine Lethargie festzustellen. Einzig und allein Racer ist voller Tatendrang und macht sich auf die Socken. Das heißt - er macht sich nicht auf die Socken sondern er marschiert barfuß durch den ICE Richtung Restaurant. Auf dem Weg dorthin wird er vom Schaffner auf den Zustand seiner nicht vorhandenen Fußbekleidung angesprochen. Seine forsche Antwort und das Fehlen einer Fahrkarte sind der Grundstein für einen freundlichen und sachlich geführten Disput.

In Frankfurt angekommen, bewahrheitet sich wieder einmal der folgende Slogan: "Die Bahn kommt - fragt sich nur wann". Ein geschlagenes dreiviertel Stündchen müssen wir auf die S-Bahn warten, um dann in Ober-Roden noch einmal einen 30-minütigen Aufenthalt in Anspruch nehmen zu können. Letztendlich kommen jedoch alle um 18 Uhr wohlbehalten und mehr oder weniger gerädert daheim an.

Abschließend können auch wir sagen: "Berlin ist eine Reise wert". Wenn auch wir erst mal keinen Koffer dort gelassen haben.

... halt, halt! Geschwind noch ein Limerick:

Der Racer cool die Dose zischt,
verzieht dabei kaum sein Gesicht.
Es stellt sich uns die Frage,
ob er an diesem Tage
sich denn noch fürchterlich erbricht.

(die Antwort lautet "ja"!)
 
 

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